Ich
hörte die Wagen an dem Gartengitter vorüberfahren, manchmal sah ich sie auch
durch die schwach bewegten Lücken im Laub. Wie krachte in dem heißen Sommer das
Holz in ihren Speichen und Deichseln! Arbeiter kamen von den Felder und
lachten, daß es eine Schande war.
Ich
saß auf unserer kleinen Schaukel, ich ruhte mich gerade aus zwischen den Bäumen
im Garten meiner Eltern.
Vor
dem Gitter hörte es nicht auf. Kinder im Laufschritt waren im Augenblick
vorüber; Getreidewagen mit Männern und Frauen auf den Garben und rings herum
verdunkelten die Blumenbeete; gegen Abend sah ich einen Herrn mit einem Stock
langsam spazieren gehn und paar Mädchen, die Arm in Arm ihm entgegenkamen,
traten grüßend ins seitliche Gras.
Dann
flogen Vögel wie sprühend auf, ich folgte ihnen mit den Blicken, sah, wie sie
in einem Atemzug stiegen, bis ich nicht mehr glaubte, daß sie stiegen, sondern
daß ich falle, und fest mich an den Seilen haltend aus Schwäche ein wenig zu
schaukeln anfing. Bald schaukelte ich stärker, als die Luft schon kühler wehte
und statt der fliegenden Vögel zitternde Sterne erschienen.
Bei
Kerzenlicht bekam ich mein Nachtmahl. Oft hatte ich beide Arme auf der
Holzplatte und, schon müde, biß ich in mein Butterbrot. Die stark
durchbrochenen Vorhänge bauschten sich im warmen Wind, und manchmal hielt sie
einer, der draußen vorüberging, mit seinen Händen fest, wenn er mich besser
sehen und mit mir reden wollte. Meistens verlöschte die Kerze bald und in dem
dunklen Kerzenrauch trieben sich noch eine Zeitlang die versammelten Mücken
herum. Fragte mich einer vom Fenster aus, so sah ich ihn an, als schaue ich ins
Gebirge oder in die bloße Luft, und auch ihm war an einer Antwort nicht viel
gelegen.
Sprang
dann einer über die Fensterbrüstung und meldete, die anderen seien schon vor
dem Haus, so stand ich freilich seufzend auf.
„Nein,
warum seufzst Du so? Was ist denn geschehen? Ist es ein besonderes, nie gut zu
machendes Unglück? Werden wir uns nie davon erholen können? Ist wirklich alles
verloren?”
Nichts
war verloren. Wir liefen vor das Haus. „Gott sei Dank, da seid Ihr endlich!” – „Du
kommst halt immer zu spät!” – „Wieso denn ich?” – „Gerade Du, bleib zu Hause,
wenn Du nicht mitwillst.” – „Keine Gnaden!” – „Was? Keine Gnaden? Wie redest Du?”
Wir
durchstießen den Abend mit dem Kopf. Es gab keine Tages- und keine Nachtzeit.
Bald rieben sich unsere Westenknöpfe aneinander wie Zähne, bald liefen wir in
gleichbleibender Entfernung, Feuer im Mund, wie Tiere in den Tropen. Wie
Kürassiere in alten Kriegen, stampfend und hoch in der Luft, trieben wir
einander die kurze Gasse hinunter und mit diesem Anlauf in den Beinen die Landstraße
weiter hinauf. Einzelne traten in den Straßengraben, kaum verschwanden sie vor
der dunklen Böschung, standen sie schon wie fremde Leute oben auf dem Feldweg
und schauten herab.
„Kommt
doch herunter!” – „Kommt zuerst herauf!” – „Damit Ihr uns herunterwerfet, fällt
uns nicht ein, so gescheit sind wir noch.” – „So feig seid Ihr, wollt Ihr
sagen. Kommt nur, kommt!” – „Wirklich? Ihr? Gerade Ihr werdet uns hinuterwerfen?
Wie müßtet Ihr aussehen?”
Wir
machten den Angriff, wurden vor die Brust gestoßen und legten uns in das Gras
des Straßengrabens, fallend und freiwillig. Alles war gleichmäßig erwärmt, wir
spürten nicht Wärme, nicht Kälte im Gras, nur müde wurde man.
Wenn
man sich auf die rechte Seite drehte, die Hand unters Ohr gab, da wollte man
gerne einschlafen. Zwar wollte man sich noch einmal aufraffen mit erhobenem
Kinn, dafür aber in einen tieferen Graben fallen. Dann wollte man, den Arm quer
vorgehalten, die Beine schiefgeweht, sich gegen die Luft werfen und wieder
bestimmt in einen noch tieferen Graben fallen. Und damit wollte man gar nicht
aufhören.
Wie
man sich im letzten Graben richtig zum Schlafen aufs äußerste strecken würde,
besonders in den Knien, daran dachte man noch kaum und lag, zum Weinen
aufgelegt, wie krank auf dem Rücken. Man zwinkerte, wenn einmal ein Junge, die
Ellbogen bei den Hüften, mit dunklen Sohlen über uns von der Böschung auf die
Straße sprang.
Den
Mond sah man schon in einiger Höhe, ein Postwagen fuhr in seinem Licht vorbei.
Ein schwacher Wind erhob sich allgemein, auch im Graben fühlte man ihn, und in
der Nähe fing der Wald zu rauschen an. Da lag einem nicht mehr soviel daran,
allein zu sein.
„Wo
seid Ihr?” - ”Kommt her!” – „Alle zusammen!” – „Was versteckst Du Dich, laß den
Unsinn!” – „Wißt Ihr nicht, daß die Post schon vorüber ist?” – „Aber nein!
Schon vorüber?” – „Natürlich, während Du geschlafen hast, ist sie
vorübergefahren.” – „Ich habe geschlafen? Nein so etwas!” – „Schweig nur, man
sieht es Dir doch an.” – „Aber ich bitte Dich.” – „Kommt!”
Wir
liefen enger beisammen, manche reichten einander die Hände, den Kopf konnte man
nicht genug hoch haben, weil es abwärts ging. Einer schrie einen indianischen
Kriegsruf heraus, wir bekamen in die Beine einen Galopp wie niemals, bei den
Sprüngen hob uns in den Hüften der Wind. Nichts hätte uns aufhalten können; wir
waren so im Laufe, daß wir selbst beim Überholen die Arme verschränken und
ruhig uns umsehen konnten.
Auf
der Wildbachbrücke blieben wir stehn; sie weiter gelaufen waren, kehrten
zurück. Das Wasser unten schlug an Steine und Wurzeln, als wäre es nicht schon
spät abend. Es gab keinen Grund dafür, warum nicht einer auf das Geländer der
Brücke sprang.
Hinter
Gebüschen in der Ferne fuhr ein Eisenbahnzug heraus, alle Coupées waren
beleuchtet, die Glasfenster sicher herabgelassen. Einer von uns begann einen
Gassenhauer zu singen, aber wir alle wollten singen. Wir sangen viel rascher
als der Zug fuhr, wir schaukelten die Arme, weil die Stimme nicht genügte, wir
kamen mit unseren Stimmen in ein Gedränge, in dem uns wohl war. Wenn man seine
Stimme unter andere mischt, ist man wie mit einem Angelhaken gefangen.
So
sangen wir, den Wald im Rücken, den fernen reisenden in die Ohren. Die
Erwachsenen wachten noch im Dorfe, die Mütter richteten die Betten für die
Nacht.
Es
war schon Zeit. Ich küßte den, der bei mir stand, reichte den drei Nächsten nur
so die Hände, begann den Weg zurückzulaufen, keiner rief mich. Bei der ersten
Kreuzung, wo sie mich nicht mehr sehen konnten, bog ich ein und lief auf
Feldwegen wieder in den Wald. Ich strebte zu der Stadt im Süden hin, von der es
in unserem Dorfe hieß:
„Dort
sind Leute! Denkt Euch, die schlafen nicht!”
„Und
warum denn nicht?”
„Weil
sie nicht müde werden.”
„Und
warum denn nicht?”
„Weil
sie Narren sind.”
„Werden
denn Narren nicht müde?”
„Wie
könnten Narren müde werden!”
Entlarvung eines
Bauernfängers
Endlich
gegen 10 Uhr abends kam ich mit einem mir von früher her nur flüchtig bekannten
Mann, der sich mir diesmal unversehens wieder angeschlossen und mich zwei
Stunden lang in den Gassen herumgezogen hatte, vor dem herrschaftlichen Hause
an, in das ich zu einer Gesellschaft geladen war.
„So!”
sagte ich und klatschte in die Hände zum Zeichen der unbedingten Notwendigkeit
des Abschieds. Weniger bestimmte Versuche hatte ich schon einige gemacht. Ich
war schon ganz müde.
„Gehen
Sie gleich hinauf?” fragte er. In seinem Munde hörte ich ein Geräusch wie vom
Aneinanderschlagen der Zähne.
„Ja”.
Ich
war doch eingeladen, ich hatte es ihm gleich gesagt. Aber ich war eingeladen,
hinaufzukommen, wo ich schon so gerne gewesen wäre, und nicht hier unten vor
dem Tor zu stehn und an den Ohren meines Gegenübers vorüberzuschauen. Und jetzt
noch mit ihm stumm zu werden, als seien wir zu einem langen Aufenthalt auf
diesem Fleck entschlossen. Dabei nahmen an diesem Schweigen gleich die Häuser
rings herum ihren Anteil, und das Dunkel über ihnen bis zu den Sternen. Und die
Schritte unsichtbarer Spaziergänger, deren Wege zu erraten man nicht Lust
hatte, der Wind, der immer wieder an die gegenüberliegende Straßenseite sich
drückte, ein Grammophon, das gegen die geschlossenen Fenster irgendeines
Zimmers sang, - sie ließen aus diesem Schweigen sich hören, als sei es ihr
Eigentum seit jeher und für immer.
Und
mein Begleiter fügte sich in seinem und - nach einem Lächeln - auch in meinem
Namen, streckte die Mauer entlang den rechten Arm aufwärts und lehnte sein
Gesicht, die Augen schließend, an ihn.
Doch
dieses Lächeln sah ich nicht mehr ganz zu Ende, denn Scham drehte mich
plötzlich herum. Erst an diesem Lächeln also hatte ich erkannt, daß das ein
Bauernfänger war, nichts weiter. Und ich war doch schon Monate lang in dieser
Stadt, hatte geglaubt, diese Bauernfänger durch und durch zu kennen, wie sie
bei Nacht aus Seitenstraßen, die Hände vorgestreckt, wie Gastwirte uns
entgegentreten, wie sie sich um die Anschlagsäule, bei der wir stehen,
herumdrücken, wie zum Versteckenspielen und hinter der Säulenrundung hervor
zumindest mit einem Auge spionieren, wie sie in Straßenkreuzungen, wenn wir
ängstlich werden, auf einmal vor uns schweben auf der Kante unseres Trottoirs!
Ich verstand sie doch so gut, sie waren ja meine ersten städtischen Bekannten
in den kleinen Wirtshäusern gewesen, und ich verdankte ihnen den ersten Anblick
einer Unnachgiebigkeit, die ich mir jetzt so wenig von der Erde wegdenken
konnte, daß ich sie schon in mir zu fühlen begann. Wie standen sie einem noch
gegenüber, selbst wenn man ihnen schon längst entlaufen war, wenn es also
längst nichts mehr zu fangen gab! Wie setzten sie sich nicht, wie fielen sie
nicht hin, sondern sahen einen mit Blicken an, die noch immer, wenn auch nur
aus der Ferne, überzeugten! Und ihre Mittel waren stets die gleichen: Sie
stellten sich vor uns hin, so breit sie konnten; suchten uns abzuhalten von
dort, wohin wir strebten; bereiteten uns zum Ersatz eine Wohnung in ihrer
eigenen Brust, und bäumte sich endlich das gesammelte Gefühl in uns auf, nahmen
sie es als Umarmung, in die sie sich warfen, das Gesicht voran.
Und
diese alten Späße hatte ich diesmal erst nach so langem Beisammensein erkannt.
Ich zerrieb mir die Fingerspitzen an einander, um die Schande ungeschehen zu
machen.
Mein
Mann aber lehnte hier noch wie früher, hielt sich noch immer für einen
Bauernfänger, und die Zufriedenheit mit seinem Schicksal rötete ihm die freie
Wange.
„Erkannt!”
sagte ich und klopfte ihm noch leicht auf die Schulter. Dann eilte ich die
Treppe hinauf und die so grundlos treuen Gesichter der Dienerschaft oben im
Vorzimmer freuten mich wie eine schöne Überraschung. Ich sah sie alle der Reihe
nach an, während man mir den Mantel abnahm und die Stiefel abstaubte. Aufatmend
und langgestreckt betrat ich dann den Saal.
Der plötzliche
Spaziergang
Wenn
man sich am Abend endgültig entschlossen zu haben scheint, zu Hause zu bleiben,
den Hausrock angezogen hat, nach dem Nachtmahl beim beleuchteten Tische sitzt
und jene Arbeit oder jenes Spiel vorgenommen hat, nach dessen Beendigung man
gewohnheitsgemäß schlafen geht, wenn draußen ein unfreundliches Wetter ist,
welches das Zuhausebleiben selbstverständlich macht, wenn man auch jetzt schon
so lange bei Tisch stillgehalten hat, daß das Weggehen allgemeines Erstaunen
hervorrufen müßte, wenn nun auch schon das Treppenhaus dunkel und das Haustor
gesperrt ist, und wenn man nun trotz alledem in einem plötzlichen Unbehagen
aufsteht, den Rock wechselt, sofort straßenmäßig angezogen erscheint, weggehen
zu müssen erklärt, es nach kurzem Abschied auch tut, je nach der Schnelligkeit,
mit der man die Wohnungstür zuschlägt, mehr oder weniger Ärger zu hinterlassen
glaubt, wenn man sich auf der Gasse wiederfindet, mit Gliedern, die diese schon
unerwartete Freiheit, die man ihnen verschafft hat, mit besonderer
Beweglichkeit beantworten, wenn man durch diesen einen Entschluß alle
Entschlußfähigkeit in sich gesammelt fühlt, wenn man mit größerer als der
gewöhnlichen Bedeutung erkennt, daß man ja mehr Kraft als Bedürfnis hat, die
schnellste Veränderung leicht zu bewirken und zu ertragen, und wenn man so die
langen Gassen langläuft, - dann ist man für diesen Abend gänzlich aus seiner
Familie ausgetreten, die ins Wesenlose abschwenkt, während man selbst, ganz
fest, schwarz vor Umrissenheit, hinten die Schenkel schlagend, sich zu seiner
wahren Gestalt erhebt.
Verstärkt
wird alles noch, wenn man zu dieser späten Abendzeit einen Freund aufsucht, um
nachzusehen, wie es ihm geht.
Entschlüsse
Aus
einem elenden Zustand sich zu erheben, muß selbst mit gewollter Energie leicht
sein. Ich reiße mich vom Sessel los, umlaufe den Tisch, mache Kopf und Hals
beweglich, bringe Feuer in die Augen, spanne die Muskeln um sie herum. Arbeite
jedem Gefühl entgegen, begrüße A. stürmisch, wenn er jetzt kommen wird, dulde
B. freundlich in meinem Zimmer, ziehe bei C. alles, was gesagt wird, trotz
Schmerz und Mühe mit langen Zügen in mich hinein.
Aber
selbst wenn es so geht, wird mit jedem Fehler, der nicht ausbleiben kann, das
Ganze, das Leichte und das Schwere, stocken, und ich werde mich im Kreise
zurückdrehen müssen.
Deshalb
bleibt doch der beste Rat, alles hinzunehmen, als schwere Masse sich verhalten
und fühle man sich selbst fortgeblasen, keinen unnötigen Schritt sich ablocken
lassen, den anderen mit Tierblick anschaun, keine Reue fühlen, kurz, das, was
vom Leben als Gespenst noch übrig ist, mit eigener Hand niederdrücken, d. h.,
die letzte grabmäßige Ruhe noch vermehren und nichts außer ihr mehr bestehen zu
lassen.
Eine
charakteristische Bewegung eines solchen Zustandes ist das Hinfahren des
kleinen Fingers über die Augenbrauen.
Der Ausflug ins Gebirge
„Ich
weiß nicht”, rief ich ohne Klang „ich weiß ja nicht. Wenn niemand kommt, dann
kommt eben niemand. Ich habe niemandem etwas Böses getan, niemand hat mir etwas
Böses getan, niemand aber will mir helfen. Lauter niemand. Aber so ist es doch
nicht. Nur daß mir niemand hilft ---, sonst wäre lauter niemand hübsch. Ich
würde ganz gern --- warum denn nicht --- einen Ausflug mit einer Gesellschaft
von Niemand machen. Natürlich ins Gebirge, wohin denn sonst? Wie sich diese
Niemand aneinander drängen, diese vielen quer gestreckten und eingehängten
Arme, diese vielen Füße, durch winzige Schritte getrennt! Versteht sich, daß
alle in Frack sind. Wir gehen so lala, der Wind fährt durch die Lücken, die wir
und unsere Gliedmaßen offen lassen. Die Hälse werden im Gebirge frei! Es ist
ein Wunder, daß wir nicht singen.”
Das Unglück des
Junggesellen
Es
scheint so arg, Jungeselle zu bleiben, als alter Mann unter schwerer Wahrung
der Würde um Aufnahme zu bitten, wenn man einen Abend mit Menschen verbringen
will, krank zu sein und aus dem Winkel seines Bettes wochenlang das leere
Zimmer anzusehn, immer vor dem Haustor Abschied zu nehmen, niemals neben seiner
Frau sich die Treppe hinaufzudrängen, in seinem Zimmer nur Seitentüren zu
haben, die in fremde Wohnungen führen, sein Nachtmal in einer Hand nach Hause
zu tragen, fremde Kinder anstaunen zu müssen und nicht immerfort wiederholen zu
dürfen:”Ich habe keine”, sich im Aussehn und Benehmen nach ein oder zwei
Junggesellen der Jugenderinnerungen auszubilden.
So
wird es sein, nur daß man auch in Wirklichkeit heute und später selbst dastehen
wird, mit einem Körper und einem wirklichen Kopf, also auch einer Stirn, um mit
der Hand an sie zu schlagen.
Der Kaufmann
Es
ist möglich, daß einige Leute Mitleid mit mir haben, aber ich spüren nichts
davon. Mein kleines Geschäft erfüllt mich mit Sorgen, die mich innen an Stirne
und Schläfen schmerzen, aber ohn mir Zufriedenheit in Aussicht zu stellen, denn
mein Geschäft ist klein.
Für
Stunden im voraus muß ich Bestimmungen treffen, das Gedächtnis des Hausdieners
wachhalten, vor befürchteten Fehlern warnen und in einer Jahreszeit die Moden
der folgenden berechnen, nicht wie sie unter Leuten meines Kreises herrschen
werden, sondern bei unzugänglichen Bevölkerungen auf dem Lande.
Mein
Geld haben fremde Leute; ihre Verhältnisse können mir nicht deutlich sein; das
Unglück, das sie treffen könnte, ahne ich nicht; wie könnte ich es abwehren!
Vielleicht sind sie verschwenderisch geworden und geben ein Fest in einem
Wirtshausgarten und andere halten sich für ein Weilchen auf der Flucht nach Amerika
bei diesem Feste auf.
Wenn
nun am Abend eines Werketages das Geschäft gesperrt wird und ich plötzlich
Stunden vor mir sehe, in denen ich für die ununterbrochenen Bedürfnisse meines
Geschäftes nichts werde arbeiten können, dann wirft sich meine am Morgen weit
vorausgeschickte Aufregung in mich, wie eine zurückkehrende Flut, hält es aber
in mir nicht aus und ohne Ziel reißt sie mich mit.
Und
doch kann ich diese Laune gar nicht benützen und kann nur nach Hause gehn, denn
ich habe Gesicht und Hände schmutzig und verschwitzt, das Kleid fleckig und
staubig, die Geschäftsmütze auf dem Kopfe und von Kistennägeln zerkratzte
Stiefel. Ich gehe dann wie auf Wellen, klappere mit den Fingern beider Hände
und mir entgegenkommenden Kindern fahre ich über das Haar.
Aber
der Weg ist zu kurz. Gleich bin ich in meinem Hause, öffne die Lifttür und
trete ein.
Ich
sehe, daß ich jetzt und plötzlich allein bin. Andere, die über Treppen steigen
müssen, ermüden dabei ein wenig, müssen mit eilig atmenden Lungen warten, bis
man die Tür der Wohnung öffnen kommt, haben dabei einen Grund für Ärger und
Ungeduld, kommen jetzt ins Vorzimmer, wo sie den Hut aufhängen, und erst bis
sie durch den Gang an einigen Glastüren vorbei in ihr eigenes Zimmer kommen,
sind sie allein.
Ich
aber bin gleich allein im Lift, und schaue, auf die Knie gestützt, in den
schmalen Spiegel. Als der Lift sich zu heben anfängt, sage ich:
„Seid
still, tretet zurück, wollt Ihr in den Schatten der Bäume, hinter die Draperien
der Fenster, in das Laubengewölbe?”
Ich
rede mit den Zähnen und die Treppengeländer gleiten an den Milchglasscheiben
hinunter wie stürzendes Wasser.
„Flieget
weg; Euere Flügel, die ich niemals gesehen habe, mögen Euch ins dörfliche Tal
tragen oder nach Paris, wenn es Euch dorthin treibt.
Doch
genießet die Aussicht des Fensters, wenn die Prozessionen aus allen drei
Straßen kommen, einander nicht ausweichen, durcheinander gehn und zwischen
ihren letzten Reihen den freien Platz wieder entstehen lassen. Winket mit den
Tüchern, seid entsetzt, seid gerührt, lobet die schöne Dame, die vorüberfährt.
Geht
über den Bach auf der hölzernen Brücke, nickt den badenden Kindern zu und
staunet über das Hurra der tausend Matrosen auf dem fernen Panzerschiff.
Verfolget
nur den unscheinbaren Mann und wenn Ihr ihn in einen Torweg gestoßen habt,
beraubt ihn und seht ihm dann, jeder die Hände in den Taschen, nach, wie er
traurig seines Weges in die linke Gasse geht.
Die
verstreut auf ihren Pferden galoppierende Polizei bändigt die Tiere und drängt
Euch zurück. Lasset sie, die leeren Gassen werden sie unglücklich machen, ich
weiß es. Schon reiten sie, ich bitte, paarweise weg, langsam um die Straßenecken,
fliegend über die Plätze.”
Dann
muß ich aussteigen, den Aufzug hinunterlassen, an der Türglocke läuten, und das
Mädchen öffnet die Tür, während ich grüße.
Zerstreutes Hinausschaun
Was
werden wir in diesen Frühlingstagen tun, die jetzt rasch kommen? Heute früh war
der Himmel grau, geht man aber jetzt zum Fenster, so ist man überrascht und
lehnt die Wange an die Klinke des Fensters.
Unten
sieht man das Licht der freilich schon sinkenden Sonne auf dem Gesicht des
kindlichen Mädchens, das so geht und sich umschaut, und zugleich sieht man den
Schatten des Mannes darauf, der hinter ihm rascher kommt.
Dann
ist der Mann schon vorübergegangen und das Gesicht des Kindes ist ganz hell.
Der Nachhauseweg
Man
sehe die Überzeugungskraft der Luft nach dem Gewitter! Meine Verdienste
erscheinen mir und überwältigen mich, wenn ich mich auch nicht sträube.
Ich
marschiere und mein Tempo ist das Tempo dieser Gassenseite, dieser Gasse,
dieses Viertels. Ich bin mit Recht verantwortlich für alle Schläge gegen Türen,
auf die Platten der Tische, für alle Trinksprüche, für die Liebespaare in ihren
Betten, in den Gerüsten der Neubauten, in dunklen Gassen an die Häusermauern
gepreßt, auf den Ottomanen der Bordelle.
Ich
schätze meine Vergangenheit gegen meine Zukunft, finde aber beide vortrefflich,
kann keiner von beiden den Vorzug geben und nur die Ungerechtigkeit der
Vorsehung, die mich so begünstigt, muß ich tadeln.
Nur
als ich in mein Zimmer trete, bin ich ein wenig nachdenklich, aber ohne daß ich
während des Treppensteigens etwas Nachdenkenswertes gefunden hätte. Es hilft
mir nicht viel, daß ich das Fenster gänzlich öffne und daß in einem Garten die
Musik noch spielt.
Die Vorüberlaufenden
Wenn
man in der Nacht durch eine Gasse spazieren geht, und ein Mann, von weitem
schon sichtbar - denn die Gasse vor uns steigt an und es ist Vollmond - uns
entgegenläuft, so werden wir ihn nicht anpacken, selbst wenn er schwach und
zerlumpt ist, selbst wenn jemand hinter ihm läuft und schreit, sondern wir
werden ihn weiter laufen lassen.
Denn
es ist Nacht, und wir können nicht dafür, daß die Gasse im Vollmond vor uns
aufsteigt, und überdies, vielleicht haben die zwei die Hetze zu ihrer
Unterhaltung veranstaltet, vielleicht verfolgen beide einen dritten, vielleicht
wird der erste unschuldig verfolgt, vielleicht will der zweite morden, und wir
würden Mitschuldige des Mordes, vielleicht wissen die zwei nichts von einander,
und es läuft nur jeder auf eigene Verantwortung in sein Bett, vielleicht sind
es Nachtwandler, vielleicht hat der erste Waffen.
Und
endlich, dürfen wir nicht müde sein, haben wir nicht soviel Wein getrunken? Wir
sind froh, daß wir auch den zweiten nicht mehr sehn.
Der Fahrgast
Ich
stehe auf der Plattform des elektrischen Wagens und bin vollständig unsicher in
Rücksicht meiner Stellung in dieser Welt, in dieser Stadt, in meiner Familie.
Auch nicht beiläufig könnte ich angeben, welche Ansprüche ich in irgendeiner
Richtung mit Recht vorbringen könnte. Ich kann es gar nicht verteidigen, daß
ich auf dieser Plattform stehe, mich an dieser Schlinge halte, von diesem Wagen
mich tragen lasse, daß Leute dem Wagen ausweichen oder still gehn oder vor den
Schaufenstern ruhn. - Niemand verlangt es ja von mir, aber das ist
gleichgültig.
Der
Wagen nähert sich einer Haltestelle, ein Mädchen stellt sich nahe den Stufen,
zum Aussteigen bereit. Sie erscheint mir so deutlich, als ob ich sie betastet hätte.
Sie ist schwarz gekleidet, die Rockfalten bewegen sich fast nicht, die Bluse
ist knapp und hat einen Kragen aus weißer kleinmaschiger Spitze, die linke Hand
hält sie flach an die Wand, der Schirm in ihrer Rechten steht auf der
zweitobersten Stufe. Ihr Gesicht ist braun, die Nase, an den Seiten schwach
gepreßt, schließt rund und breit ab. Sie hat viel braunes Haar und verwehte
Härchen an der rechten Schläfe. Ihr kleines Ohr liegt eng an, doch sehe ich, da
ich nahe stehe, den ganzen Rücken der rechten Ohrmuschel und den Schatten an
der Wurzel.
Ich
fragte mich damals: Wieso kommt es, daß sie nicht über sich verwundert ist, daß
sie den Mund geschlossen hält und nichts dergleichen sagt?
Kleider
Oft
wenn ich Kleider mit vielfachen Falten, Rüschen und Behängen sehe, die über
schönen Körper schön sich legen, dann denke ich, daß sie nicht lange so
erhalten bleiben, sondern Falten bekommen, nicht mehr gerade zu glätten, Staub
bekommen, der, dick in der Verzierung, nicht mehr zu entfernen ist, und daß
niemand so traurig und lächerlich sich wird machen wollen, täglich das gleiche
kostbare Kleid früh anzulegen und abends auszuziehn.
Doch
sehe ich Mädchen, die wohl schön sind und vielfache reizende Muskeln und
Knöchelchen und gespannte Haut und Massen dünner Haare zeigen, und doch
tagtäglich in diesem einen natürlichen Maskenanzug erscheinen, immer das
gleiche Gesicht in die gleichen Handflächen legen und von ihrem Spiegel
widerscheinen lassen.
Nur
manchmal am Abend, wenn sie spät von einem Feste kommen, scheint es ihnen im
Spiegel abgenützt, gedunsen, verstaubt, von allen schon gesehn und kaum mehr
tragbar.
Die Abweisung
Wenn
ich einem schönen Mädchen begegne und sie bitte: „Sei so gut, komm mit mir” und
sie stumm vorübergeht, so meint sie damit:
„Du
bist kein Herzog mit fliegendem Namen, kein breiter Amerikaner mit indianischem
Wuchs, mit wagrecht ruhenden Augen, mit einer von der Luft der Rasenplätze und
der sie durchströmenden Flüsse massierten Haut, Du hast keine Reisen gemacht zu
den großen Seen und auf ihnen, die ich weiß nicht wo zu finden sind. Also ich
bitte, warum soll ich, ein schönes Mädchen, mit Dir gehn?”
„Du
vergißt, Dich trägt kein Automobil in langen Stößen schaukelnd durch die Gasse;
ich sehe nicht die in ihre Kleider gepreßten Herren Deines Gefolges, die
Segensprüche für Dich murmelnd in genauem Halbkreis hinter Dir gehn; Deine
Brüste sind im Mieder gut geordnet, aber Deine Schenkel und Hüften entschädigen
sich für jene Enthaltsamkeit; Du trägst ein Taffetkleid mit plissierten Falten,
wie es im vorigen Herbste uns durchaus allen Freude machte, und doch lächelst
Du - diese Lebensgefahr auf dem Leibe - bisweilen.”
„Ja,
wir haben beide recht und, um uns dessen nicht unwiderleglich bewußt zu werden,
wollen wir, nicht wahr, lieber jeder allein nach Hause gehn.”
Zum Nachdenken für
Herrenreiter
Nichts,
wenn man es überlegt, kann dazu verlocken, in einem Wettrennen der erste sein
zu wollen.
Der
Ruhm, als der beste Reiter eines Landes anerkannt zu werden, freut beim Losgehn
des Orchesters zu stark, als daß sich am Morgen danach die Reue verhindern
ließe.
Der
Neid der Gegner, listiger, ziemlich einflußreicher Leute, muß uns in dem engen
Spalier schmerzen, das wir nun durchreiten nach jener Ebene, die bald vor uns
leer war bis auf einige überrundete Reiter, die klein gegen den Rand des
Horizonts anritten.
Viele
unserer Freunde eilen den Gewinn zu beheben und nur über die Schultern weg
schreien sie von den entlegenen Schaltern ihr Hurra zu uns; die besten Freunde
aber haben gar nicht auf unser Pferd gesetzt, da sie fürchteten, käme es zum
Verluste, müßten sie uns böse sein, nun aber, da unser Pferd das erste war und
sie nichts gewonnen haben, drehn sie sich um, wenn wir vorüberkommen und
schauen lieber die Tribünen entlang.
Die
Konkurrenten rückwärts, fest im Sattel, suchen das Unglück zu überblicken, das
sie getroffen hat, und das Unrecht, das ihnen irgendwie zugefügt wird; sie
nehmen ein frisches Aussehen an, als müsse ein neues Rennen anfangen und ein
ernsthaftes nach diesem Kinderspiel.
Vielen
Damen scheint der Sieger lächerlich, weil er sich aufbläht und doch nicht weiß,
was anzufangen mit dem ewigen Händeschütteln, Salutieren, Sich-Niederbeugen und
In-die-Ferne-Grüßen, während die Besiegten den Mund geschlossen haben und die
Hälse ihrer meist wiehernden Pferde leichthin klopfen.
Endlich
fängt es gar aus dem trüb gewordenen Himmel zu regnen an.
Das Gassenfenster
Wer
verlassen lebt und sich doch hie und da irgendwo anschließen möchte, wer mit
Rücksicht auf die Veränderungen der Tageszeit, der Witterung, der
Berufsverhältnisse und dergleichen ohne weiteres irgend einen beliebigen Arm
sehen will, an dem er sich halten könnte, - der wird es ohne ein Gassenfenster
nicht lange treiben. Und steht es mit ihm so, daß er gar nichts sucht und nur
als müder Mann, die Augen auf und ab zwischen Publikum und Himmel, an seine
Fensterbrüstung tritt, und er will nicht und hat ein wenig den Kopf
zurückgeneigt, so reißen ihn doch unten die Pferde mit in ihr Gefolge von Wagen
und Lärm und damit endlich der menschlichen Eintracht zu.
Wunsch, Indianer zu
werden
Wenn
man doch ein Indianer wäre, gleich bereit, und auf dem rennenden Pferde, schief
in der Luft, immer wieder kurz erzitterte über dem zitternden Boden, bis man
die Sporen ließ, denn es gab keine Sporen, bis man die Zügel wegwarf, denn es
gab keine Zügel, und kaum das Land vor sich als glatt gemähte Heide sah, schon
ohne Pferdehals und Pferdekopf.
Die Bäume
Denn
wir sind wie Baumstämme im Schnee. Scheinbar liegen sie glatt auf, und mit
kleinem Anstoß sollte man sie wegschieben können. Nein, das kann man nicht,
denn sie sind fest mit dem Boden verbunden. Aber sieh, sogar das ist nur
scheinbar.
Unglücklichsein
Als
es schon unerträglich geworden war - einmla gegen Abend im November - und ich
über den schmalen Teppich meines Zimmers wie in einer Rennbahn einherlief,
durch den Anblick der erleuchteten Gasse erschreckt, wieder wendete, und in der
Tiefe des Zimmers, im Grund des Spiegels doch wieder ein neues Ziel bekam, und
aufschrie, um nur den Schrei zu hören, dem nichts antwortet und dem auch nichts
die Kraft des Schreiens nimmt, der also aufsteigt, ohne Gegengewicht, und nicht
aufhören kann, selbst wenn er verstummt, da öffnete sich aus der Wand heraus
die Tür, so eilig, weil doch Eile nötig war und selbst die Wagenpferde unten
auf dem Pflaster wie wildgewordene Pferde in der Schlacht, die Gurgeln
preisgegeben, sich erhoben.
Als
kleines Gespenst fuhr ein Kind aus dem ganz dunklen Korridor, in dem die Lampe
noch nicht brannte, und blieb auf den Fußspitzen stehn, auf einem unmerklich
schaukelnden Fußbodenbalken. Von der Dämmerung des Zimmers gleich geblendet,
wollte es mit seinem Gesicht rasch in seine Hände, beruhigte sich aber
unversehens mit dem Blick zum Fenster, vor dessen Kreuz der hochgetriebene
Dunst der Straßenbeleuchtung endlich unter dem Dunkel liegen blieb. Mit dem
rechten Ellbogen hielt es sich vor der offenen Tür aufrecht an der Zimmerwand
und ließ den Luftzug von draußen um die Gelenke der Füße streichen, auch den
Hals, auch die Schläfen entlang.
Ich
sah ein wenig hin, dann sagte ich „Guten Tag” und nahm meinen Rock vom
Ofenschirm, weil ich nicht so halb nackt dastehen wollte. Ein Weilchen lang
hielt ich den Mund offen, damit mich die Aufregung durch den Mund verlasse. Ich
hatte schlechten Speichel in mir, im Gesicht zitterten mir die Augenwimpern,
kurz, es fehlte mir nichts, als gerade dieser allerdings erwartete Besuch.
Das
Kind stand noch an der Wand auf dem gleichen Platz, es hatte die rechte hand an
die Mauer gepreßt und konnte, ganz rotwangig, dessen nicht satt werden, daß die
weißgetünchte Wand grobkörnig war und die Fingerspitzen rieb. Ich sagte: „Wollen
Sie tatsächlich zu mir? Ist es kein Irrtum? Nichts leichter als ein Irrtum in
diesem großen Hause. Ich heiße Soundso, wohne im dritten Stock. Bin ich also
der, den Sie besuchen wollen?”
„Ruhe,
Ruhe!” sagte das Kind über die Schulter weg, „alles ist schon richtig.”
„Dann
kommen Sie weiter ins Zimmer herein, ich möchte die Tür schließen.”
„Die
Tür habe ich jetzt gerade geschlossen. Machen Sie sich keine Mühe. Beruhigen
Sie sich überhaupt.”
„Reden
Sie nicht von Mühe. Aber auf diesem Gange wohnt eine Menge Leute, alle sind
natürlich meine Bekannten; die meisten kommen jetzt aus den Geschäften; wenn
sie in einem Zimmer reden hören, glauben sie einfach das Recht zu haben,
aufzumachen und nachzuschaun, was los ist. Es ist einmal schon so. Diese Leute
haben die tägliche Arbeit hinter sich; wem würden sie sich in der
provisorischen Abendfreiheit unterwerfen! Übrigens wissen Sie es ja auch.
Lassen Sie mich die Türe schließen.”
„Ja
was ist denn? Was haben Sie? Meinetwegen kann das ganze Haus hereinkommen. Und
dann noch einmal: Ich habe die Türe schon geschlossen, glauben Sie denn, nur
Sie können die Türe schließen? Ich habe sogar mit dem Schlüssel zugesperrt.”
„Dann
ist gut. Mehr will ich ja nicht. Mit dem Schlüssel hätten Sie gar nicht
zusperren müssen. Und jetzt machen Sie es sich nur behaglich, wenn Sie schon
einmal da sind. Sie sind mein Gast. Vertrauen Sie mir völlig. Machen Sie sich
nur breit ohne Angst. Ich werde Sie weder zum Hierbleiben zwingen, noch zum
Weggehn. Muß ich das erst sagen? Kennen Sie mich so schlecht?”
„Nein.
Sie hätten das wirklich nicht sagen müssen. Noch mehr, Sie hätten es gar nicht
sagen sollen. Ich bin ein Kind; warum soviel Umstände mit mir machen?”
„So
schlimm ist es nicht. Natürlich, ein Kind. Aber gar so klein sind Sie nicht.
Sie sind schon ganz erwachsen. Wenn Sie ein Mädchen wären, dürften Sie sich
nicht so einfach mit mir in einem Zimmer einsperren.”
„Darüber
müssen wir uns keine Sorgen machen. Ich wollte nur sagen: Daß ich Sie so gut
kenne, schützt mich wenig, es enthebt Sie nur der Anstrengung, mir etwas
vorzulügen. Trotzdem aber machen Sie mir Komplimente. Lassen Sie das, ich
fordere Sie auf, lassen Sie das. Dazu kommt, daß ich Sie nicht überall und
immerfort kenne, gar bei dieser Finsternis. Es wäre viel besser, wenn Sie Licht
machen ließen. Nein, lieber nicht. Immerhin werde ich mir merken, daß Sie mir
schon gedroht haben.”
„Wie?
Ich hätte Ihnen gedroht? Aber ich bitte Sie. Ich bin ja so froh, daß Sie
endlich hier sind. Ich sage ›endlich‹, weil es schon so spät ist. Es ist mir
unbegreiflich, warum Sie so spät gekommen sind. Da ist es möglich, daß ich in
der Freude so durcheinander gesprochen habe und daß Sie es gerade so verstanden
haben. Daß ich so gesprochen habe, gebe ich zehnmal zu, ja ich habe Ihnen mit
Allem gedroht, was Sie wollen. - Nur keinen Streit, um Himmelswillen! - Aber
wie konnten Sie es glauben? Wie konnten Sie mich so kränken? Warum wollen Sie
mir mit aller Gewalt dieses kleine Weilchen Ihres Hierseins verderben? Ein
fremder Mensch wäre entgegenkommender als Sie.”
»Das
glaube ich; das war keine Weisheit. So nah, als Ihnen ein fremder Mensch
entgegenkommen kann, bin ich Ihnen schon von Natur aus. Das wissen Sie auch,
wozu also die Wehmut? Sagen Sie, daß Sie Komödie spielen wollen, und ich gehe
augenblicklich.«
„So?
Auch das wagen Sie mir zu sagen? Sie sind ein wenig zu kühn. Am Ende sind Sie
doch in meinem Zimmer. Sie reiben Ihre Finger wie verrückt an meiner Wand. Mein
Zimmer, meine Wand! Und außerdem ist das, was Sie sagen, lächerlich, nicht nur
frech. Sie sagen, Ihre Natur zwinge Sie, mit mir in dieser Weise zu reden.
Wirklich? Ihre Natur zwingt Sie? Das ist nett von Ihrer Natur. Ihre Natur ist meine,
und wenn ich mich von Natur aus freundlich zu Ihnen verhalte, so dürfen auch
Sie nicht anders.”
„Ist
das freundlich?”
„Ich
rede von früher.”
„Wissen
Sie, wie ich später sein werde?”
„Nichts
weiß ich.”
Und
ich ging zum Nachttisch hin, auf dem ich die Kerze anzündete. Ich hatte in
jener Zeit weder Gas noch elektrisches Licht in meinem Zimmer. Ich saß dann
noch eine Weile beim Tisch, bis ich auch dessen müde wurde, den Überzieher
anzog, den Hut vom Kanapee nahm und die Kerze ausblies. Beim Hinausgehen
verfing ich mich in ein Sesselbein.
Auf
der Treppe traf ich einen Mieter aus dem gleichen Stockwerk.
„Sie
gehen schon wieder weg, Sie Lump?” fragte er, auf seinen über zwei Stufen
ausgebreiteten Beinen ausruhend.
„Was
soll ich machen?” sagte ich, „jetzt habe ich ein Gespenst im Zimmer gehabt.”
„Sie
sagen das mit der gleichen Unzufriedenheit, wie wenn Sie ein Haar in der Suppe
gefunden hätten.”
„Sie
spaßen. Aber merken Sie sich, ein Gespenst ist ein Gespenst.”
„Sehr
wahr. Aber wie, wenn man überhaupt nicht an Gespenster glaubt?”
„Ja
meinen Sie denn, ich glaube an Gespenster? Was hilft mir aber dieses
Nichtglauben?”
„Sehr
einfach. Sie müssen eben keine Angst mehr haben, wenn ein Gespenst wirklich zu
Ihnen kommt.”
„Ja,
aber das ist doch die nebensächliche Angst. Die eigentliche Angst ist die Angst
vor der Ursache der Erscheinung. Und diese Angst bleibt. Die habe ich geradezu
großartig in mir.” Ich fing vor Nervosität an, alle meine Taschen zu
durchsuchen.
„Da
Sie aber vor der Erscheinung selbst keine Angst hatten, hätten Sie sie doch
ruhig nach ihrer Ursache fragen können!”
„Sie
haben offenbar noch nie mit Gespenstern gesprochen. Aus denen kann man ja
niemals eine klare Auskunft bekommen. Das ist ein Hinundher. Diese Gespenster
scheinen über ihre Existenz mehr im Zweifel zu sein, als wir, was übrigens bei
ihrer Hinfälligkeit kein Wunder ist.”
„Ich
habe aber gehört, daß man sie auffüttern kann.”
„Da
sind Sie gut berichtet. Das kann man. Aber wer wird das machen?”
„Warum
nicht? Wenn es ein weibliches Gespenst ist z. B.” sagte er und schwang sich auf
die obere Stufe.
„Ach
so”, sagte ich, „aber selbst dann steht es nicht dafür.”
Ich
besann mich. Mein Bekannter war schon so hoch, daß er sich, um mich zu sehen,
unter einer Wölbung des Treppenhauses vorbeugen mußte. „Aber trotzdem”, rief
ich, „wenn Sie mir dort oben mein Gespenst wegnehmen, dann ist es zwischen uns
aus, für immer.”
„Aber
das war ja nur Spaß”, sagte er und zog den Kopf zurück.
„Dann
ist es gut”, sagte ich und hätte jetzt eigentlich ruhig spazieren gehen können.
Aber weil ich mich gar so verlassen fühlte, ging ich lieber hinauf und legte
mich schlafen.
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